Trainingstag und erster Tag
Mit Poços de Caldas in Brasilien hatte ich noch eine Rechnung offen: Um Ostern 2010 herum fand hier ein Weltcup statt, der fliegerisch gerade mal zwei kleine Tasks hergab. Ich kam bei beiden nicht weit. Ansonsten regnete es ständig, an einem Tag fiel am Startplatz sogar etwas Schnee. In Brasilien. Im April.
Offene Rechnungen sollte man irgendwann einmal begleichen, darum schrieb ich mich neben dem Weltcup in Andradas auch gleich noch für die Brasilianische Meisterschaft - eben in Poços de Caldas - ein, und reiste am Mittwoch via Sao Paulo an.
Der Trainingstask gestern Freitag war schon ganz anders als meine bisherigen Erfahrungen hier. Blauer Himmel, zuverlässiges Steigen (zur Not auch mal von ganz tief raus), gute und weniger gute Linien, wie man das von Brasilien halt kennt und auch ein bisschen erwartet. Der Task war "interessant" gesteckt: Der zweite Zylinder lag am gegenüberliegenden Ufer eines Sees, in dessen Umgebung die Thermik deutlich schlechter war als überall sonst wo wir vorbeikamen. Dass es da zu keinen Badeszenen kam, war eher Zufall. Ich liess mir sehr viel Zeit, und schaffte es dann mit der ersten Gruppe, die den Start gemäss Ausschreibung genommen hatte, ins Ziel. Das Feld dort, und die Landungen, die ich aus der Luft beobachtete, motivierten mich, noch einmal aufzudrehen. Schlussendlich erreichte ich knapp 2900m, und nutze das für eine Runde einmal um die Stadt herum. Am Westende fand ich dann ein grosses Feld, und nach langem Warten am Strassenrand - Taxis kamen keine vorbei, den lokalen Uber-Fahrern war's zu weit - einen freundlichen Herrn aus Italien, der mich bis vors Hotel fuhr. Die Einschreibung erreichte ich so gerade noch rechtzeitig.
Heute ging's dann los mit Task 1, 81 km Richtung Westen, das meiste davon quer zum erwarteten Wind. Den Start erwischte ich nur mittelprächtig, nach der ersten Boje lag ich ziemlich weit zurück. Wegen dem Wind beschloss ich, für die folgende In-Out-In-Sequenz (drei Zylinder um den gleichen Wegpunkt: 52km enter, 58km exit, 52km enter) die Streckenvorgabe meines Varios zu ignorieren und eher luvseitig zu bleiben, um so den letzten, langen Schenkel möglichst wenig gegen den Wind zu fliegen. Das lief richtig gut, und so fand ich mich ab dem zweiten In in der Spitzengruppe. Die wurde allerdings wegen zunehmenden Abschattungen (im Briefing hatte es noch geheissen "heute keine Wolken") immer langsamer, und dementsprechend immer grösser. Ich war aber gut positioniert, meist ganz oben drauf. 20 km vor dem Ziel war dann die Sonne vor uns komplett weg, wir drehten einen sterbenden Schlauch, die ungeduldigeren flogen weiter, fanden 200m weiter noch einmal etwas, viele gingen mit, und plötzlich zog unser Schlauch wieder an. So sehr, dass ich beim Wegfliegen sogar schon anfing wegen der Höhenbegrenzung bei 2895m zu bibbern. Das klappte gerade noch, und so ging meine kleine Gruppe mit benötiger Gleitzahl von etwa 8 in den Endanflug.
Gleitzahl 8 ins Ziel ist an den meisten Orten ein sicherer Wert - aber nicht in Brasilien, das weiss ich mittlerweile. Und tatsächlich, wie wir so über die komplett abgeschattete Fläche glitten, ging der Wert anfangs zwar schön runter, blieb dann aber hartnäckig bei 5.2 stehen. Daraus ergaben sich so nervenaufreibende 15 Minuten, wie ich sie selten erlebt habe: Vor mir - und tiefer - nur gerade mal drei Schirme. Ich im Vollgas, ohne Möglichkeit, meine immer mal wieder unter 4 tauchenden Gleitzahl weiter zu verbessern. Weit voraus das Ziel. Unterwegs erspähte ich ein paar Vögel, die eher unmotiviert Thermikreste ausdrehten, die kleinen Umwege zu ihnen hin belohnten mich mindestens mit etwas weniger Sinken. Die benötige Gleitzahl blieb bei 5.2. Je tiefer wir kamen, desto spürbarer wurde der Gegenwind vom See her, der hinter dem Ziel lag. Auch nicht gerade hilfreich. Kaum hatten wir die ESS erreicht, kam etwas Sonne durch, die drei vor mir schafften es aber trotzdem nicht mehr über die 2 km entfernte Ziellinie. Ich erwischte noch einmal einen kleinen Vogel-markierten Heber - und flog als allererster über die Ziellinie. Wow! Die 30m Resthöhe waren sehr schnell abgebaut.
In der Stunde nach meiner Landung kamen immer wieder Piloten angeflogen, aber jeder Dritte stand kurz vor der Linie am Boden. Einige erreichten die ESS nur knapp über Goal-Höhe, fanden Thermik, liessen sich mehrere Kilometer zurücktreiben, um dann doch noch ins Ziel zu fliegen. Schlussendlich waren 42 im Ziel, weitere 21 mussten zwischen ESS und Ziel landen.
Zurück im HQ wurde ich ungeduldigtst erwartet vom Meet Director und dem Auswerter: Die Auswertungssoftware verhielt sich seltsam, ob ich mir das mal anschauen könnte. Der erste Versuch scheiterte, mein Bauch brummte so laut dass mein Kopf nicht denken konnte. Nach einem Abstecher in eine enorm beliebte Pizzeria fand ich den Fehler (Wurzel einer negativen Zahl, weil die schnellsten Piloten an der ESS es nicht ins Ziel geschafft hatten, anscheinend kein häufiger Fall), korrigierte ihn und jetzt sind die Resultate draussen. Mein Hänger am Anfang wirkte sich natürlich auf die Leading Points aus, somit bin ich mit einem Punkt Rückstand auf Luciano Horn Zweiter. Meine Rechnung mit Poços de Caldas erkläre ich hiermit für beglichen, was nun noch kommt ist Bonus.
Michael Sigel on Sunday, 1. September 2019, 08:24